Publikationen

Monografie

Nadel, Rille, Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons in Deutschland (1900-1940), Köln, Weimar, Berlin 2009, 447 Seiten.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts eröffneten „Phonoobjekte“ die historisch neue Möglichkeit, Schall technisch zu reproduzieren. Die Transformation des flüch­ti­gen Schalls in ein materiell Dauerhaftes löste ihn von seinen Bindungen an Raum und Zeit – ein für das Verständnis der kulturellen Moderne zentraler Vorgang.

Die Untersuchung von Stefan Gauß stützt sich auf das Forschungskonzept der „industriellen Massenkultur“ (Wolfgang Ruppert) und fragt in der Perspektive einer empirischen Kulturgeschichte nach den Entwicklungen und Verlaufs­formen der Produktion der Phonoobjekte, des Umgangs mit ihnen sowie nach ihrer zivilisationsgeschichtlichen Bedeutung. Im Mittelpunkt des Interesses steht das Wechselverhältnis zwischen der materiellen und der immate­riellen Kultur, das heißt, der Zusammenhang zwischen den Eigenschaften und Merkmalen der Phonoobjekte und den mit ihnen verbundenen Sinnkonzepten, Bedeutungen, Wahrnehmungen und Umgangsweisen. Als maßgebliche Quelle standen die beiden Fachperiodika „Phonographische Zeitschrift“ und „Die Sprechmaschine“ zur Verfügung, die das erste Mal systematisch ausgewertet wurden.

Der erste Teil der Arbeit befasst sich mit der Kommerzialisierung der Phono­objekte von den ersten Prototypen zu den serienreifen Massenprodukten sowie der Entwicklung der Phonoindustrie in ihren Strukturmerkmalen, angefangen bei den Werkstätten bis hin zu den global agierenden Konzernen. Untersucht werden die Strategien und Mittel des Marketings und der Werbung, die dem neuen Angebot kulturelle Legitimation und Akzeptanz verschaffen sollten. Die Behandlung der Produktion der Tonträger und ihrer Bedingungen stellt die Faktoren heraus, die auf die aufgenommenen kulturellen Gehalte formend einwirkten und beschreibt die unterschiedlichen Erlebnisse und Erfahrungen, die die Künstler und Tontech­niker vor dem Trichter machten.

Die systematische Erfassung der materiellen Ausprägungen der Phonoobjekte führt auf das Feld weit ausdifferenzierter Objektivationen, die auf unter­schiedliche Geschmacksvorstellungen und Sinnkonzepte verweisen und als symbolische Formen auf ihre Repräsentationen hin befragt werden. Insbesondere zeigt sich die Ordnung der Sinne und der spezifische Gebrauch, der von ihnen zur Wahrnehmung des neuen Klangbildes technisch reproduzierten Schalls gemacht wurde, als ein enger Konnex zur materiellen Ausprägung der Phono­objekte.

Der zweite Teil der Arbeit befasst sich anhand der drei Felder „Freizeit“, „Arbeitsleben“ und „Wissenschaft und Bildung“ mit der Art und Weise, wie die Phonoobjekte angeeignet, gebraucht, der Umgang mit ihnen habitualisiert und im Zuge dessen mit Sinn besetzt wurde. Jede Praktik wird in ihrer Spezifik dargestellt, in den Kontext ihrer Entstehung eingeordnet und auf die Regelhaftig­keit zurückgeführt, die sie bestimmt und strukturiert. Beachtung finden unter anderem leitbildhafte und idealisierte Gebrauchskonzepte, sozialhistorisch, musikästhetisch und innerpsychisch differente Aneignungsweisen, das Hören von Musik fern der Heimat, von lauter Musik und von Musik in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges. Im Kontext des Arbeitslebens diente technisch reproduzierte Musik dem Eintakten von Arbeitsabläufen oder dem Einüben von Fertigkeiten. Diktierapparate rationalisierten die Kommunikation und wirkten auf das soziale Gefüge der an diesem Prozess beteiligten Akteure ein. Im Bereich der Wissen­schaft entstand mit der Herstellung von Tonaufzeichnungen und der Archivierung von Tonträgern eine neue Quellenbasis, die neue Zugriffsweisen, Erkenntnisinteressen und Methoden für akustische Ereignisse mit sich brachte. Der Verwendung in Bildungsein­rich­tungen folgte den Zielen, Wissen zu vermitteln oder auf spezifische Fertigkeiten einzuüben.

Die Einordnung der Phonoobjekte unter einer zivilisationsgeschichtlichen Perspektive untersucht die Zuschreibungen der Zeitgenossen im Kontext der Modernität der Jahrhundertwende mit ihrer neuartigen Wahrnehmung des Transistorischen, der Flüchtigkeit und des Ephemeren, das sich mit dem Beständigen verband. Die Phonoobjekte erschienen hierin als ein ebenso sinnfälliges wie signifikantes Zeichen ihrer Zeit, das sie zugleich mit anderen Objektkulturen wie dem Automobil oder dem Filmapparat verband. Ein reflexiver Diskurs um den historischen Ort der Phonoobjekte entfaltete sich ausgehend vom Aspekt des Ewigen als das nie Vergehende, was auf dem Gebrauchswert gründete, kulturell bedeutsame akustische Ereignisse dem kollektiven Gedächtnis auf ewig bewahren zu können.

Als Objekte der industriellen Massenkultur waren die Phonoobjekte jedoch auch beteiligt an der Beschleunigung des kulturellen Wandels, waren selbst Produzent und Ausdruck des Ephemeren, indem sie dem Bedürfnis nach dem Reiz des Neuen, nach Abwechslung und Unterhaltung entgegen kamen.

Der mehrdimensionale Raum kultureller Wertmuster und Zuschreibungen, in dem die Phonoobjekte verortet wurden, entspann sich sowohl aus dieser Paradoxie wie auch aus dem semantischen Spannungsfeld von einerseits lebendiger menschlicher Objektivation (Sprache, Musik) und andererseits toter mechanischer Verdinglichung.

Aufsätze und Schriften

Rauschfrei und pur. Der CD-Player und der Übergang zum digitalen Sound. In: Christina Dörfling, Christofer Jost u. Martin Pfleiderer (Hgg.): Musikobjektgeschichten. Populäre Musik und materielle Kultur, Münster 2021, S. 161-179.

Listening to the Horn: On the Cultural History of the Phonograph and the Gramophone. In Sounds of Modern History. Auditory Cultures in 19th- and 20th- Century Europe. Ed. Daniel Morat. New York, Oxford 2014. P. 71-100.

Der Sound aus dem Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons. In: Gerhard Paul und Ralph Schock (Hgg.): Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen — 1889 bis heute, Bonn 2013 und in: Dies. (Hgg.): Sound der Zeit. Geräusche, Töne, Stimmen — 1889 bis heute, Göttingen 2014, S. 31-37. (Der Text ist online verfügbar mit Hörbeispielen auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung.)

Das Grammophon in den Bildern von George Grosz. Die künstlerische Darstellung von Objekten der industriellen Massenkultur und ihre Aussagekraft als historische Quelle, unveröff. Manuskript, 2006.

Das Erlebnis des Hörens. Die Stereoanlage als kulturelle Erfahrung, in: Wolfgang Ruppert (Hg.): Um 1968 – Die Repräsentation der Dinge, Marburg 1998, S. 65-93.

Photo – Audio – Video. In: Holger Luczak und Walter Volpert (Hg.): Handbuch Arbeitswissenschaft, Stuttgart 1997, S. 1032-1036.

Bjønar Olsen: Roland Barthes, From Sign to Text, in: Wolfgang Ruppert (Hg.): „Reading Material Culture“, Berlin 1997 (Arbeitshefte zur Geschichte der industriellen Massenkultur), S. 6-12.

Chiffre „grau“ versus Wohnraum. Zur Modifikation einer Zuschreibung und zum Stellenwert privater Aneignungsformen von Objekten, in: Wolfgang Ruppert (Hg.): Made in DDR, Berlin 1993 (Arbeitshefte zur Geschichte der industriellen Massenkultur), S. 34-40.

SinnBilder. Einige Anmerkungen zur Installation sehqenzen und zu den sehqenzen II – Bilderzyklen, in: sehquenzen II. Bilder und Installation von Eberhard Gast, Kat., Berlin 1993.

Der Designer und die leere Menge. Anmerkungen aus studentischer Sicht, in: werk und zeit, 1990, Heft 3, S. 12-17.