Der Deutsche Werkbund zwischen Handwerk und Industrie

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 Objektgeschichte
Plakat zur Ausstellung des Deutschen Werkbundes "Kunst in Handwerk, Industrie und Handel, Architektur", in Köln, 1914.

Die Auseinandersetzungen um Handwerk und Industrie im Deutschen Werkbund 1919 bis 1927

Die Auseinandersetzungen um die Stellung des Handwerks zur Industrie und zur Kunst im Deutschen Werkbund während der Weimarer Republik ist durch einen Haltungswechsel der Mehrzahl seiner Mitglieder um 1923/24 gekennzeichnet. Bis 1923/24 herrschte die Verbindung zwischen Kunst und Handwerk vor, nach diesem Zeitpunkt rückte die industrielle Produktionsweise von Gütern und später auch von industriell hergestellten Fertigbauteilen für den Wohnungsbau in den Vordergrund. Das Handwerk verlor im Werkbund an Geltung und 1927 vollzog sich in Zusammenhang mit einer Ausstellungsplanung der letztendliche Bruch zwischen beiden. Aufgrund der heterogenen Zusammensetzung der Mitglieder des Deutschen Werkbundes (Industrielle, Handwerker, Architekten, Künstler, Wissenschaftler, Politiker) ist es möglich an seinem Beispiel die Auseinandersetzungen um Kunst, Handwerk und Industrie aus der subjektiven Sicht in Zusammenhang mit der objektiven Stellung seiner Mitglieder in diesem Feld zu untersuchen.

Im folgenden werden die verschiedenen Haltungen im Werkbund zum Verhältnis Handwerk zu Industrie in ihrem zeitlichen Verlauf nachgezeichnet. Der Kunstauffassung kommt dabei eine besondere Rolle zu, da viele der Mitglieder des Werkbundes als Künstler sprechen respektive argumentieren. Die Perspektive der Sprechenden und der weitere geschichtliche Kontext, in dem diese Debatten eingebettet waren, machen ihre aus ihrem jeweils verschiedenen Interesse hervorgegangenen Zuschreibungen einordenbar. Interessant erscheint vor allen Dingen der Bruch um 1923/24, der sich als Bruch in den persönlichen Haltungen vieler Mitglieder abspielte und nicht allein auf ein Wechsel der Hegemonie unterschiedlicher im Werkbund repräsentierter Gruppen zurückzuführen ist.

Als es 1919 das erste Mal nach dem 1. Weltkrieg im Deutschen Werkbund zur Auseinandersetzung um Handwerk und Industrie kam, stand die Debatte im Fluß weitreichender historischer Veränderungen, die in den Jahren und Jahrzehnten zuvor begonnen hatten. Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzende Verstädterung hielt weiter an, 1925 wohnte ein Drittel der Bevölkerung in Großstädten. Seit 1914 stagnierte die Entwicklung der industriellen Produktion, häufig ging sie zurück. Aus der Erfahrung der Zeitgenossen war die Zukunft noch nicht eindeutig für die Industrie entschieden, auch der Agrarstaat schien in den Möglichkeiten verschiedener Entwicklungen plausibel. Die diffuse Schicht des Kleinbürgertums, zu dem auch die Handwerker zu zählen sind, erlebte in den beiden letzten Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende bis zum Krieg 1914 eine Dezimierung. Kleinere und mittlere Betriebe wurden durch die Konkurrenz mit Großbetrieben aufgefressen und viele Selbstständige verloren ihre Existenz. Arbeiteten 1907 noch 31,2% aller Beschäftigten in Betrieben einer Größe zwischen einem und fünf Betriebsangehörigen, so reduzierte sich ihre Zahl bis 1925 auf 25,4%. Demgegenüber wuchsen im gleichen Zeitraum mittlere und größere Betriebe bis 1000 Beschäftigte um durchschnittlich etwa ein Prozent, Betriebe über 1000 Beschäftigte von 1907 4.9% auf 1925 6,8% um fast zwei Prozent.1 Die Handwerksbetriebe bildeten Handwerker aus, konnten sie aber meist nicht weiter beschäftigten und lieferten der Industrie überqualifizierte Arbeitskräfte, deren handwerkliche Fähigkeiten im Prozeß zunehmender Maschinisierung und Rationalisierung der Produktion entwertet wurden. Mit und durch die industrielle Revolution vollzog sich ein tiefgreifender struktureller gesellschaftlicher Wandel, der die überkommenen traditionellen Orientierungsmuster der Menschen entwertete ohne sie automatisch durch neue zu ersetzen. Als Versuch mit neuen Orientierungsmustern sinnvolle Handlungsmuster hervorzubringen, kann die Diskussion im Deutschen Werkbund in den zwanziger Jahren angesehen werden.

Poelzig 1919

Auf der ersten Jahrestagung des Deutschen Werkbundes nach dem Krieg, 1919 in Stuttgart, hielt Hans Poelzig, Gründungsmitglied, Architekt und von 1903 bis 1916 Direktor der Königlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe in Berlin, eine programmatische Rede über das Verhältins von Kunst-Handwerk und Kunst-Industrie. Nachdem Poelzig an das Gründungsmotiv einer auf Idealismus gründenden geistigen Bewegung in Abgrenzung zu Kompromiss, Resignation und Wirtschaft hinwies, beklagte er das Fehlen dieses idealen Geistes und forderte ihn "in seiner Reinheit wiederherzustellen":2

"Kunst und Handwerk sind die beiden Fundamente, auf denen die Arbeit des Werkbundes zu fußen hat . Sie sind im Grunde ihrer Gesinnung eins, aber ein gutes Handwerk und eine große Kunst entstehen nur auf dem Boden einer reinen Gesinnung, und menschliche Unzulänglichkeiten sind der Grund künstlerischer und werklicher Unvollkommenheit."3

Poelzig ordnet der Kunst das Handwerk zu, indem er sie in ihrer geistigen und sittlichen Grundhaltung für identisch erklärt. Diese Identität von Kunst und Handwerk wird in ihren qualitativen Maßstäben an einen Begriff von "Reinheit" gekoppelt, Bürge für "Größe" und "Güte". Die Überwindung eines unterschobenen menschlichen Mangels ("Unzulänglichkeiten") führten zur Wiedererlangung der Reinheit. Poelzig weiter:

"Unter Handwerk will ich hierbei etwas ganz und gar Geistiges verstanden wissen, eine seelische Grundstimmung, nicht die technische Vollendung in irgendeinem gewerblichen Zweig. Das, was wir unter Handwerk verstehen müssen und das mit künstlerischer Tätigkeit eigentlich völlig identisch ist, ist der Wille, mit größter Versenkung und Liebe Formen zu schaffen, eine Tätigkeit, bei der an die wirtschaftliche Ausnutzung der Arbeit eigentlich gar nicht oder nur allerletzten Sinnes gedacht wird. Das unterscheidet diese Tätigkeit grundlegend von allen industriellen Unternehmungen."4

Der Wille ist der geistige Ort des (künstlerischen) Produktionsprozesses, Versenkung und Liebe die mentalen Mittel. Poelzig setzt hier den nach innen gewandten aus sich selbst schöpfenden Künstler ins Werk, der "frei von jeder Rücksicht"5 gegenüber den ökonomischen Zwängen und nur seinem "künstlerischen handwerklichen Gewissen haftbar"6 aus dem Geist, in einem Akt des Willens, die Welt erstehen läßt. Die Autonomie von den ökonomischen Zwängen, die dem künstlerischen Schaffen untergeordnet werden, versprechen Befreiung von den Kompromissen, die den reinen Willen verunreinigen. Auf die industrielle Welt, mit und in den Formen struktureller Gewalt ihrer Produktionsformen, nimmt Poelzig nur zu Zwecken der Abgrenzung Bezug. Die Dichotomie zwischen Kunst und Handwerk auf der einen und Industrie auf der anderen verfolgt das Ziel mittels Aus- und Abgrenzung die Identität von Kunst und Handwerk zu generieren, damit sich einen Ort zu schaffen, in dessen Mitte sinnvolles Handeln - aus der Perspektive eines sich selbst als Architekt und die Architektur ihres Selbstverständnisses nach den Künstlern bzw. den Künsten zugeordnet - möglich sein soll. Poelzigs Perspektive kommt nirgends deutlicher zum Ausdruck, wo er die Architektur zum Leitsegment der Künste stilisiert und verabsolutiert ("...die wahre Bildung aller Künste gibt nur die Architektur"7). Die Architektur als "Produkt der seelischen Grundbestimmung eines Volkes"8 wird funktionalisiert, um die verlorengegangene "Einheit des Kunstschaffens"9 unter einer "stilistischen Einigung der Künste"10 wiederzugewinnen, die Polzig der Hegemonie der ökonomischen Leitwerte vor künstlerisch-geistigen zuschreibt. Jedoch fordert Poelzig nicht allein eine formalistische Einigung der Künste auf rein stilistischer Ebene, die er als Symptombekämpfung mit "Palliativmitteln" geißelt, die am "Äußerlichen, dem Dekorativen" hängen bliebe, wenn er diesen als Mangel bewerteten architektonischen Ausdruck mit der Vorherrschaft der monetären Ökonomie in Zusammenhang bringt:

"Sie bleiben am Äußerlichen, dem Dekorativen hängen und wo außerdem geschäftliche Erwägungen tyrannisch vorherrschen, wo der Händlergeist dominiert, wird der künstlerischen Haltung, die auf Innerlichkeit und Beseelung sich gründet, von vornherein das Genick gebrochen."11

Polzigs politische Absicht dieser Rede ist, die Arbeit des Werkbundes und damit ihn insgesamt auf "handwerklich-künstlerischem Boden" und "nicht auf technisch-industriellem" gründen zu lassen.

Das auf das Engste mit seiner Perspektive als Architekt (und damit als Künstler) mit obigen Leitvorstellungen verknüpfte Interesse, dem er mit dieser Rede als Redender, d.h. zur Rede bevollmächtigter, zur Durchsetzung verhelfen sucht, diktiert ihm die Zuschreibungen, ebenso wie die unter dieser Perspektive gewonnenen Klassifikationen, mit denen er die Wirklichkeit konstruiert.

Auf der einen Seite die Identität von Handwerk und Kunst, aufgeladen als "ethisch(e) Begriff(e)", dem "Gewissen" verhaftet, auf "wahr Erkanntem" beruhend, der "Heimat" verpflichtet, das als Bedrohung/Verunsicherung erfahrene Gefühl der Zerrissenheit unter dem Leitbild des Mittelalters in einer neuen Synthese wiedervereinend. Auf der anderen die "verwässerte" und verwässernde Industrie, auf das Neue, den schnell wechselnden Reiz aus, gebunden an Nachfrage und Export, dem Geschmack verpflichtet, deren massenhafte Wiederholung der Warenformen "unerträglich" sind, die die Zerrissenheit selbst verkörpert, "heimatlos" ist, "üppig" und "krankhaft".

Dem Bild des Gesunden/der Gesundung, der Wahrheit, der Heimat, dem Gewissen, der Geistigkeit, der Einzigartigkeit, dem Mittelalter, welches der Kunst und dem Handwerk zugeordnet wird, stellt Polzig antithetisch das Bild des Krankhaften, der Heimatlosigkeit, des Triebes, der Wiederholung, der Antikisierung, der Zerrissenheit und des rein materiellen Erwerbs gegenüber, mit dem er die Industrie codiert.

Die Differenz zwischen der inneren Logik handwerklicher gegenüber industriell-manufaktureller Produktionsweisen dient in der Praxis der Auseinandersetzungen mittels affirmativer wie ablehnender/ausgrenzender Konnotationen der Schaffung einer Identität, die im Falle Poelzigs analog zu den auf den Erfahrungen als Architekt gründenden Wahrnehmungsmustern gesehen werden muß. Poelzig verbalisierte die noch ablehnende Haltung vieler Werkbundmitglieder gegenüber den sich verändernden Produktionsverhältnissen und den damit verbundenen kulturellen Umwälzungen. Die maschinisierte, rationalisierte und industriell organisierte Arbeit bedrohe die im Kern einem souveränen Subjekt zugeschriebene Arbeitsform künstlerischer Produktionsweisen, welche im inkorporierten Selbstverständnis Poelzigs gleichbedeutend die Lebensqualität generell bedrohe. ("Er [der seelische Zusammenhang mit der Heimat, S.G.] kann aber nur bewirkt werden durch die Änderung der seelischen Grundstimmung, durch die Erweckung der Freude am Werk und an der Arbeit."12) Arbeitszeit und Freizeit sind noch nicht in ihren Sinn stiftenden Gehalten voneinander getrennt. Die Qualität der Arbeit bestimmt noch die Qualität des Lebens insgesamt. Sinnerfüllung verschiebt sich noch nicht auf den Bereich der "freien" Zeit, die die Sinnentleerung mechanisierter, austauschbarer "Jobs" (im Gegensatz zum Beruf) kompensiert, läßt damit noch nicht los, von einem an die Zeit der Arbeit verknüpften Begriff der Lebensqualität.

Aussprache über Poelzigs Rede

In der auf Poelzigs Vortrag folgenden Diskussion, die protokollarisch in den "DWB-Mitteilungen" wiedergegeben wurde13, kritisierten verschiedene Anwesende Poelzigs harte Gegenüberstellung von Kunst, Handwerk und Industrie. Die Entwicklung der industriellen Produktionsweise wurde, mit Rekurs auf ihren historischen Ursprung im Handwerk, linear weitergezeichnet. F. A. O. Krüger zog am Beispiel der jüngsten Vergangenheit der Textilindustrie den Analogieschluss, dass so, wie dort auch verschiedene Handwerksgruppen nebeneinander und zusammengearbeitet hätten, es auch in der Industrie gemacht werden müsse. Die Verhältnisse seien in der qualitätsfreundlichen Industrie nur im Maßstab andere.

Der Tischlermeister und Gründer der Dresdener Werkstätten für Handwerkskunst, Karl Schmidt-Hellerau, argumentierte in eine ähnliche Richtung (gleich auch dem Industriellen Peter Bruckmann14), wenn er die meisten und besten Industriebetriebe mit großgewordenen Handwerksbetrieben gleichsetzte und diesen mehr Idealismus zusprach als im ganzen deutschen Volk zu finden sei. Mit dieser hierarchisierenden Spaltung zwischen idealisierter Industrie und Volk maß Schmidt-Herllerau der Industrie wie ihren Produkten die Trägerrolle deutscher Tugenden an; der Bosch-Zünder war nicht nur ein nach seinem Zweck definierte elektrische Anlage zur Bildung eines Zündfunkens zur Zündung des Kraftstoff-Luft-Gemischs im Verbrennungsraum eines Ottomotors, sondern zugleich Zeugnis sauberer Arbeit, reinlichster Gesinnung und tüchtigster Leistung. In diesem Erzeugnis stecke mehr künstlerisches Gefühl und es habe mehr Ehre in der Welt eingebracht, als die ganze Stuttgarter Kunst aus den letzten 20 Jahren, so Schmidt-Hellerau weiter.

Reinlichkeit, Sauberkeit, Tüchtigkeit, Arbeit, Gesinnung, Leistung und Ehre - das deutsche Industrieprodukt aufgeladen mit Begriffen nationaler Tugenden, Repräsentant moralischer Überlegenheit nicht für sondern "vor" dem Volk und in der Welt.

Die mehr oder minder relativierenden Einwände des Auditoriums nötigten Poelzig in seinem Schlusswort die Modifikation seiner Thesen ab. Seine scharfe Grenzziehung sei absichtlich gewesen, auch wenn es in der Industrie Grenzgebiete gebe. Beim Begriff "Industrie" habe er nur die minderwertige Kunstindustrie im Auge gehabt, der Kampf gelte dem "blöden Formalismus" der sich gegen den Geist der Zeit wende.15

Die Einwände, die in der Diskussion vorgebracht wurden, stellten Poelzigs Ansichten jedoch nicht grundsätzlich in Frage. Indiz für die generelle Zustimmung der Werkbundmitglieder ist der Beschluss, Poelzigs Vortrag zur weiteren Grundlage der Arbeit des Deutschen Werkbundes zu nehmen.

Die Zeit bis zur Ausstellung "Form ohne Ornament"

Poelzig selbst wurde noch im selben Jahr bestätigt, indem man ihn zum ersten Vorsitzenden wählte. Vor allem die jüngeren Radikalen begrüßten seine Wahl, welche sie als positives Signal werteten. Doch Poelzig wirkte nicht sehr lange, er trat bereits 1921 wieder zurück. Seine Abneigung gegenüber Politik und Bürokratie gründete auf der Ansicht, sie würden dem künstlerischen Schaffen schaden.

Der Wechsel im Vorsitz zu Richard Riemerschmid, Gründungsmitglied, Architekt und Entwerfer, als ersten Vorsitzenden, und dem Vorrücken der "alten Garde", darunter Bruno Paul, Peter Behrens, Peter Bruckmann und Walter Riezler, entsprach einem Stimmungsumschwung innerhalb der Vereinigung. Mehrere bedeutende Künstler zogen sich daraufhin von tätiger Mitarbeit zurück. Walter Gropius tat dies aus Protest gegen die wachsende innere Reaktion im Werkbund, Bruno Taut verließ erst 1923 den Vorstand formell, hatte sich vorher aber bedeutender Tätigkeiten vorbehalten. Heinrich Tessenow trat den Rückzug im April 1921 an, er sah nach Poelzigs Rücktritt keinen Sinn mehr im Werkbund.

Für die Radikalen bedeutete der Umschwung ein Abwenden des Werkbundes von der neuen Kunst. Viele der Radikalen lasteten den Umschwung den Intrigen der Reaktionäre an, jedoch Gropius selbst meinte, dass sich die fortschrittlichen Künstler erst durch bedeutsame Leistungen auszuweisen hätten und Riemerschmid erhob zusammen mit anderen den Vorwurf, die Radikalen hätten nicht alles getan, um ihre Position zu entfalten. Die vielfältigen und widersprüchlichen Haltungen im Kunstbereich machten eine einseitige Verpflichtung des Werkbund unmöglich, wobei sich die Radikalen und die Reaktionäre meist noch gleicher Schlagworte bedienten. Unhinterfragtes Einverständnis herrschte in beiden Fraktionen über die "Heiligsprechung" (Campbell) des Handwerks und die Verbindung zur Kunst.

Paul Renner, Buchkünstler und Typograph, der 1911 zusammen mit Emil Preetorius die Münchner Schule für Illustration und Buchgewerbe gründete, redete dieser Verbindung ähnlich Poelzig das Wort. Gegen Ende 1921 schrieb er in den "Mitteilungen":

"… zu tun, was unser Gewissen, was unser soziales Gewissen uns vorschreibt: mit allen Kräften dahin wirken, daß die Arbeiterschaft am geistigen Leben der Zeit gleichen Anteil fordere und nehme, den der mittelalterliche Handwerkskünstler an dem seiner Zeit genommen hat."16

Renners Perspektive glich der Poelzigs insofern, als auch er die künstlerische Leistung zum Maßtab der Arbeitsqualität erhob und forderte, dass jeder arbeitende Mensch sich in und mit seiner Arbeit in diesem Sinne zu entfalten hätte. Mit dem Anspruch, dass diese qualitative Art künstlerisch produzierender Arbeit für alle zugänglich sein sollte, unterstellte man der Arbeitern die gleichen Interessen und Neigungen, die man aufgrund der Spezifik der eigenen Arbeit entwickelt hatte. Nochmals Paul Renner: "Künstlerische Leistung setzt die Konzeption der Phantasie, in der Vorstellung eines Menschen voraus; sie ist natürliches und unwillkürliches Ergebnis des über seine Arbeit ernsthaft nachdenkenden Handwerkers."17

Ein anderes Zitat verdeutlicht nochmals den Charakter des Einsatzes für die "gefesselten Opfer der Arbeitsteiligkeit" unter einer Perspektive, die die Position und Kenntnisse künstlerischer Produktionsweisen zur Voraussetzung hat:

"Denn nicht der künstlerische Hausrat in der kleinsten Hütte ist der Sinn kunstgewerblicher Erneuerung. Wenn es sich nur um das Produkt handelte, würde eine Ehrenrettung der Typen-liefernden Maschine wohl angebracht; aber es handelt sich um die Produzierenden; es handelt sich darum, den an spezialisierte, mechanische Arbeit gefesselten Opfern der Arbeitsteilung eine Tätigkeit zu verschaffen, die alle ihre Fähigkeiten zur Entfaltung bringt."18

Um diesen Absichten ihre Richtung und institutionalisiertes Gewicht zu verleihen, wurden zwischen 1918 und 1922 eine Reihe von Gruppierungen und Untergruppierungen gegründet, die sich alle der Sicherung des Kunsthandwerkes und Handwerkes widmeten. Sie trugen programmatische Namen wie "Bund der Freude wertvoller Handwerkstechnik", "Werkstattgruppe", "Arbeitsgemeinschaft für Handwerkskultur" oder "Meisterring", eine Vereinigung, die aus Handwerksmeistern bestand, durch die "Werkstattgruppe" des Werkbundes veranlaßt wurde, ihre mittelalterlichen Vorfahren zum Vorbild hatte und der Überzeugung war, dass der weitere Bestand des Fachhandwerks vom Wiederaufleben des patriarchalischen Meister-Lehrling-Verhältnisses abhinge.

Die Orientierung auf die historische Phase einer ideal vorgestellten Ganzheit "Mittelalter" setzte gleichzeitig konservative Wertvorstellungen auf sozialem und kulturellem Gebiet ins Werk, wie die ideologische Konzeption des "Meisterrings" zeigt. Mit dem "Zersetzungsprozess, den man als Fortschritt zu preisen nicht müde wird", der "die Einheit: Künstler-Handwerker, Geist-Handwerk gesprengt" hatte und der Produktionsentwicklung von "Quantität statt … Qualität", von Werkstatt zur Fabrik19, stand mehr auf dem Spiel als eine lediglich auf den ökonomischen Bereich sich beschränkende Entwicklung. Der Bezug auf eine gelebte Vergangenheit, in der Vorstellung idealisiert, wurde als kulturelles Bild funktionalisiert, mit der Aufgabe, die mentale Reaktion, das psychische Empfinden der "Zerrissenheit" zurückzudrängen bzw. ganz aufzuheben. Man kann diese Art der Gegenwartsbewältigung aber nur zu einem Teil als romantisierende Flucht in die Vergangenheit betrachten, schließlich hatten Kritik an den Produktionsverhältnissen und Einsatz für die Fabrikarbeiter ihren realen Bezug in der jüngsten historischen Entwicklung, die in ihren Auswirkungen weithin sichtbar waren. Auch bleibt nochmals daran zu erinnern, dass die Industrialisierung aus der Perspektive der Zeitgenossen bereits an ihre Grenzen zu stoßen schien, was dem Handwerk berechtigten Aufwind versprach:

"Immerhin scheint deutlich, daß der Gang der mechanischen Rationalisierung im ganzen, wenn nicht abgeschritten, so doch in seinen Grenzen sichtbar ist; das Problem der Industrie liegt vor allem in der ökonomischen Rationalisierung. Dadurch ist das Handwerk wieder seines Eigenwertes bewußter geworden und aus der bloßen Abwehrstellung der Angst erlöst."20

Der "Gesinnungswechsel"

Von der Linie der Handwerk-Kunst-Synthese abweichende Haltungen gab es vereinzelt bereits früh, wie bei Adolf Behne, der 1922 in seinem Aufsatz "Kunst, Handwerk, Technik"21 die Neigung zum Handwerk als das Aufleben eines sentimentalen Romantizismus bezeichnete. Behne sah den Grund für diesen Romantizismus in der Unfähigkeit, das Neue in bewußter Arbeit herbeizuführen, daher begehe man die Flucht in die Vergangenheit. Mit seiner Feststellung, dass die Trennung der Arbeit in beseeltem Handwerk auf der einen Seite und geistloser, mechanischer Technik auf der anderen falsch sei, kritisierte er die mittelständische und antimarxistische Losung "Freude der Arbeit", unter der u.a. 1922 eine Tagung mit gleich lautendem Thema stattgefunden hatte. "Freude der Arbeit " war darauf ausgerichtet, ein neues Arbeitsethos einzuführen und die Arbeiter durch Anpassung und Neustrukturierung zu integrieren.

Die Kritik, die Behne gegenüber dem "Romantizismus" der Mittelalter- und Handwerks-Verklärung äußerte, blieb nicht lange allein. Es folgte bei mehreren Mitgliedern eine Wende. Walter Gropius, Bruno Taut, Walter C. Behrendt und andere tauschten mit Behne frühere Ideale gegen das der "Neuen Sachlichkeit". Gropius postulierte 1923 für das Bauhaus: "Kunst und Technik - eine neue Einheit"22, ein Bekenntnis zu einem neuen Glauben, die "Wohnmaschine" verdrängte die "Zukunftskathedrale". Behrendt, Herausgeber der Zeitschrift Die Volkswohnung, einem Organ der romantischen Großstadtfeinde um Tessenow und Taut bekehrte sich 1924 zur Neuen Sachlichkeit und gründete die Zeitschrift Der Neubau, in der die Notwendigkeit der Typisierung und technischen Neuerung betont wurde. Peter Behrens sah das Potential, eine übersichtlichere und praktischere Gestaltung des Lebens herbeizuführen, allein in der Industrie begründet. Fragwürdig schien ihm nur, ob es der Technik gelingen würde, sich vom Selbstzweck zu befreien und zum Mittel und Ausdruck einer Kultur zu avancieren.23 Der Widerspruch zwischen vergangenem Expressionismus und Neuer Sachlichkeit war ein Scheinwiderspruch, da er in zeitlicher Abfolge geschah und keine personalen Oppositionen beinhaltete. Der Meinungsumschwung vollzog sich letzten Endes mehrheitlich, der Expressionismus erschien als "Zwischenphänomen".24 Der Bauhäusler Oskar Schlemmer beschrieb das Phänomen des Umschwungs im Juni 1922:

"Wir können und wollen nur das Realste, wollen die Realisation der Ideen erstreben. Statt Kathedralen die Wohnmaschine. Abkehr also von der Mittelalterlichkeit und vom mittelalterlichen Begriff des Handwerks und zuletzt des Handwerks selbst, als nur Schulung und Mittel zum Zweck der Gestaltung. Statt Ornamentationen, in die ein unsachliches oder ästhetisches, von mittelalterlichen Begriffen geleitetes Handwerk notwendig verläuft, sachliche Objekte, die Zwecken dienen."25

Form ohne Ornament

Eine nicht unbedeutende Rolle beim Umdenken scheint die Inflation, vor allem die Phase der Hyperinflation in den Jahren 1922 und 1923, gespielt zu haben. Die totale Geldentwertung, die erst durch die Gründung einer deutschen Rentenbank, die deutschen Grund und Boden als Sicherheit anbot, gestoppt wurde26, zeigte die innere Notlage in ihrem wirklichen Ausmaß. Der Tiefpunkt 1923 konnte zu einem Ausgangspunkt der Ernüchterung und Stabilisierung werden.26

1924 organisierte der Werkbund seine erste Ausstellung nach der Inflation. Sie trug den Titel "Form ohne Ornament" und wurde in Stuttgart veranstaltet. Arbeiten aus dem Bauhaus und aus Gruppen nach Art der Deutschen Werkstätten wurden in die Ausstellung mit einbezogen. Die unverzierten Gegenstände, die dort ausgestellt wurden, fanden aus unterschiedlichen Gründen Zustimmung. Man wähnte sich auf den Spuren von Adolf Loos, im Sinne seines Funktionalismus, sah in typisierter Formgebung der Maschinentechnologie das Bedürfnis der Zeit, sah den Geist des Neu-Biedermeier im Namen bürgerlichen guten Geschmacks, sah rein ästhetisch die Dinge als abstrakte Kunst oder als Wahrzeichen des Zeitalters der Maschine.27 Im Vordergrund stand noch die Suche nach einem neuen Stil - im Vergleich zum Neuen Wohnen und Neuen Bauen, die vor allem in den Folgejahren die neue Prämisse der Wirtschaftlichkeit formulierten und Bezug auf die reale materielle Not der Unterschichten nahm. Der Philologe, Kunst- und Musikhistoriker Walter Riezler schrieb im Vorwort zum Buch "Form ohne Ornament":

"Hier haben wir die Zeichen für ein Wiedererwachen der formenden Instinkte, die Vorboten eines neuen, alle Äußerungen des Lebens umfassenden Zeitstils. Noch wissen wir nicht, wie dieser Stil, wenn er einmal zur Reife gediehen ist, aussehen wird, wie viele und welche Elemente früherer Zeiten er in sich aufnehmen wird, ob er im wesentlichen durch die Technik bestimmt sein wird, oder ob neben diesen Formen noch ganz andere entstehen werden, - aber daß er kommt, ist nicht mehr zu übersehen, und es wäre Vermessenheit, sich seinem Schritt entgegenzustemmen, weil vielleicht manche alte längst vertraute Schönheit ihm zum Opfer fallen muß."28

Nachdem die Bautätigkeit nach 1923 zunahm, verschob sich im Werkbund auch das Bemühen vom Kunstgewerbe auf das Bauen. Auf den Jahrestagungen 1924 in Karlsruhe (Thema: "Arbeit und Leben") und 1926 in Essen (Thema: Beziehung zwischen Kunst und Industrie) zeigten sich nochmals die Spaltung der Ansichten zwischen der aus den strukturellen Zwängen und Erfahrungen der Industriellen sich ergebenden Haltung und der Haltung der "Idealisten" der Werkbundes, sowie die allgemein verunsicherte Grundstimmung, welchen Stand die Industrialisierung eigentlich erreicht habe, welche Folgewirkungen sie zeitigte und in welche Richtung man sie gestalten wolle.

Hugo Borst, Direktor der Robert Bosch AG, verwies in Karlsruhe auf neue Produktionsmethoden, die die Produktivität der Arbeit steigerten, die Kosten senkten und die Löhne aufwerteten. Fordismus und Taylorismus waren ihm nicht Begleiterscheinung der Amerikanisierung Europas, sondern Merkmale eines aufblühenden Industriesystems. Borst konnotierte die Zeit auch entgegen Poelzig. Nicht die Arbeitszeit ist die einer Kultur verpflichtete wichtige Zeit, sondern die Freizeit, also gerade die von Arbeit befreite Zeit, sei Vorbedingung für kulturellen Fortschritt.29 Dem widersprach Dr. Willy Hellpach (Mitglied der DDP, 1924 Ministerpräsident von Baden, vorher Prof. der Psychologie, TH Karlsruhe, 1925 erfolglose Kandidatur für das Amt des Reichspräsidenten). Er zeigte sich weniger zuversichtlich, dass die Industrialisierung die Kultur fördern werde. Die Berufsarbeit könne nicht vom übrigen Leben abgetrennt betrachtet werden, Arbeitsvorgänge müßten so gestaltet werden, dass Arbeiter in der Industrie persönliche Befriedigung erlangten, Fortschritte der Psychologie und Physiologie schafften bessere Arbeitsbedingungen, bessere Beziehungen innerhalb Fabrik; bessere Bildungseinrichtungen bereicherten die Volkskultur und Automatisierung befreie von der Knechtschaft. Erst die Erzielung einer neuer Arbeitsethik und eine Bildungsreform schafften die Überwindung mechanistischer und materialistischer Einstellungen, welche die Arbeit aller menschlichen Werte beraubt habe.30

In Essen betonte Richard Riemerschmid, 1926 erster Vorsitzender des Deutschen Werkbundes, die Verantwortlichkeit der Macht, die den Industriekapitänen zukomme. Sie sollten sich zur Werkbund-Ethik bekennen, ihr wichtigstes Ziel sollte die Förderung der "Freude der Arbeit" sein. Die Industriellen sollten den Beweis von Menschenliebe durch Schaffung eines vom Klassenkampf befreites soziales Klima antreten. Auf der Grundlage eines neues Gemeinschaftsbewusstsein sollten Lösungen neuer Gestaltungsaufgaben gefunden werden. Riemerschmid warf der Industrie mangelnde Sorge um die Kultur vor. Weitere Redner wiederum warfen den Idealisten des Werkbundes Traumtänzerei vor, sie verstünden die wirkliche Welt nicht, seien ahnungslos was die schwierigen Bedingungen der deutschen Industrie anginge. Die Gestaltung habe da einen zweiten Rang, nach den Kosten und Preisen. Außerdem habe die Industrie bereits zur Schaffung neuer Formen beigetragen.

Die radikalen Modernisten im Werkbund fanden allerdings über die Frage, wie billiger Wohnraum für möglichst viele Menschen produziert werden kann, zur Ökonomie zurück. Die neue Ästhetik der Neuen Sachlichkeit stand in Zusammenhang mit der Vision eines Neues Wohnens, wie sie sich in der Weißenhofsiedlung 1927 objektivierte. Marcel Breuer schrieb am Beispiel seines Stahlrohrsessels über den neuen Maßstab:

"die strenge normung der elemente ... und die volle berücksichtigung der betriebstechnischen, fabrikatorischen forderungen ergaben nun den sozialen maßstab, den von den breitesten massen bezahlbaren preis, ohne den mich die ganze arbeit nicht besonders befriedigt hätte."31

Die maschinelle Fertigung, im Produkt sichtbar, begründete bei Breuer eine maschinenmäßige Logik, die er dem künstlerischen Schaffen gegenüberstellte: "...es [das Stück, S.G.] ist am wenigsten künstlerisch, am meisten logisch, am wenigsten »wohnlich«, am meisten maschinenmäßig."32

Adolf G. Schneck, Architekt und Entwerfer, verstand Typisieren als gleichbedeutend mit Massenanfertigung und führte den Qualitätsbegriff für die industriellen Massenprodukten ein: "Die Massenanfertigung bedingt den Massenabsatz, und ein Massenabsatz läßt sich nur erzielen bei Ausführung in bester Qualität."33

Die Beschränkung auf das Notwendigste34, Befreiung von "unnötigem" Ballast - zumal Ballast der Geschichte - und die Gestaltung nach Zwecken, führte zu einem Funktionalismusbegriff, der im Verständnis einiger Architekten und Entwerfer die Gestaltung aus der Funktion allein und den Bedingungen der Produktion quasi naturhaft erwachsen ließ (z.B. Bruno Taut), und im Gegensatz zum Verständnis anderer Architekten/Gestalter (beispielsweise Walter Gropius) standen, die sehr wohl die Gestaltung der Dinge als eine bewußte Aufgabe ansahen.

"Er [der Künstler, S.G.] erkannte die gemeinsamen Voraussetzungen, für sein eigenes Schaffensgebiet und das des Ingenieurs: Jedes Ding ist bestimmt durch sein Wesen. Um es zu gestalten, daß es richtig funktioniert, muß sein Wesen erforscht werden; denn es soll seinem Zweck vollkommen dienen, d.h. seine Funktionen praktisch erfüllen, dauerhaft, billig und wohlgestaltet sein. Um diese Forderungen zu erfüllen, muß »mit geringsten Mitteln größte Wirkung« erreicht werden. Unserer Zeit der Technik ist dieses alte Gesetz bei der Lösung materieller Fragen und Dinge schnell bewußt geworden; es beherrscht das Werk des Technikers."35

In dem Maße, wie man begann, sich auf die realen gesellschaftlichen Probleme der Masse der Minderbemittelten, des Elends und der Armut zu beziehen, trat die industrielle Fertigung als Lösungsoption in den Vordergrund. Und je mehr man die Verbilligung von Wohnen, Bauen und materiellen Gütern anstrebte, damit die Verfügbarkeit für die ökonomisch Minderbemittelten zu erreichen suchte, entfernte man sich von (kunst-) handwerklich hergestellten Produkten, denen man nunmehr einen Platz als Befriedigung des Luxusbedürfnisses der bürgerlichen Schichten auf internationaler Ebene einräumte.

Endgültiger Bruch 1927

Im selben Jahr wie die Ausstellung Weißenhofsiedlung eröffnet wurde, 1927, ereigneten sich auf der Jahrestagung in Mannheim, wo die Rolle des Handwerks diskutiert wurde, die ersten Schritte zum endgültigen Bruch zwischen Handwerk und Deutschem Werkbund. Die Vertreter des Handwerks drängten auf auf engere Beziehungen zwischen dem Werkbund und dem Kunsthandwerk. Von den Handwerksverbänden lagen Bündnisangebote vor.

Hans Meusch, Sprecher des Handwerks, sagte in seinem Grundsatzreferat, der Werkbund solle den Boykott gegen die Arbeitsgemeinschaft der Handwerker überdenken, es gebe auch Reformströmungen im Handwerk, das ein würdiger Bundesgenosse werden würde. Die meisten der Kunsthandwerker mißtrauten dem Werkbund. Die Vorreiterrolle, die der Werkbund in ihren Augen einnahm, sollte zurückgedrängt werden. Meusch forderte desshalb den Werkbund auf, seine Führerrolle zu überdenken und sich als Gleicher unter Gleichen dem Dienst der Volksgemeinschaft zu widmen.36 Im Werkbund bestand bis dahin eine Koexistenz von Neuem Bauen und Kunsthandwerk, da mit dem Kunsthandwerk die Rückeroberung verlorener Märkte gewünscht wurde, und die Einsicht, dass Individualisten und (internationale) finanzkräftige Bürgerliche dem Außergewöhnlichen fröhnten, welche Unterscheidung von der für die moderne Welt charakteristischen Gleichmacherei wollten, maß dem Kunsthandwerk eine für die Interessen des Werkbundes eine sinnvolle Rolle zu. Die Verbindung zwischen dem Werkbund und dem Kunsthandwerk war allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht so intensiv, wie nach dem Kriege, was, neben der Dominanz der modernen Strömungen um das Neue Bauen, auch an der nach wie vor im Werkbund vorhandenen Regel lag, der Handwerker habe die "Pflicht, als geschickter, williger Helfer dem Willen des Künstlers dienbar zu sein."37. Der Werkbund wollte auch die Befreiung des Handwerks von rückgewandter Orientierung an der Volkskunst. Diese Voraussetzungen führten über die Vorbereitung einer Ausstellung, die in Dresden 1929 gezeigt werden sollte, zum Konflikt zwischen Werkbund und Redslob.

Die Vorbereitungen der Ausstellung standen unter dem Protektorat des Reichskunstwartes Redslob und der Arbeitsgemeinschaft für Handwerkerkultur. Redslob und seine Mitarbeiter wünschten sich die Wiederbelebung der Volkskultur, worin sie eine fortschrittliche Bestrebung zu erkennen glaubten, die dem Wunsch der Jugend in aller Welt diene und dem übertrieben empfundenen Intellektualismus und Rationalismus der Zeit entgegen wirke. Der Werkbund hielt diese Haltung für anachronistisch, bekämpfte Redslobs Einfluß auf die Arbeitsgemeinschaft und betrieb seine Entlassung als Reichskunstwart. Weiterhin versuchte er den Erfolg der Ausstellung zu vereiteln. Damit wurde einer Versöhnung zwischen Werkbund und Handwerk der Boden entzogen.38

Mit dem Umschwung nach 1923, der ein Umschwung der Moderne insgesamt war und nicht des Deutschen Werkbundes allein, dort aber seinen Niederschlag fand, begann in der Weimarer Republik die fruchtbarste Phase dieser kulturellen Strömung. Als herausragender Ausdruck hierfür kann die Weißenhofsiedlung Stuttgart aus dem Jahr 1927 angesehen werden. Anhand der Tagungsprotokolle, Reden, Aufsätze und anderen Veröffentlichungen der Werkbundmitglieder wird das Wechselverhältnis von ideeller Einstellung und Bezugnahme auf historische Veränderungen bzw. gegenwärtigen Umständen sichtbar. Erst als sich die strenge Verbindung von Kunst und Handwerk zu lösen begann und die Industrie an dessen Stelle trat, konnten sinnvolle Lösungsansätze für die Probleme der ökonomisch minderbemittelten Schichten gefunden werden. Der Wechsel von einseitig negativer Konnotation der Industrie zu einem "Werkzeug" (Gropius), verlief parallel zur Verschiebung des Selbstverständnisses der Gestalter/Architekten von einer Orientierung am Künstler(selbst)bild zur Orientierung am Ingenieur/Techniker/Organisator.

Die Probleme, wie sie anhand der Klassischen Moderne sichtbar werden – preiswerten Wohnraum und gut gestaltete, preisgünstige Dinge zu ermöglichen –, sind bis heute bedeutende Aufgaben der Hervorbringung unserer materiellen Kultur geblieben.

Kritisch zu betrachten sind die vereinfachende und vereinheitlichende Perspektive der Architekten und Gestalter der Moderne, unter der sie den neuen Menschen erziehen wollten, wenn sie allzu schnell im extremen Fall die Erfahrung ihrer Position als Architekt und Künstler als allgemeine und legitime Bedürfnisse aller ausgaben und dabei die Bedingungen ihrer eigenen Bildung, ihres eigenen So-geworden-Seins unberücksichtigt ließen, sowie die dominierende unpolitische Haltung der meisten, die besonders ab 1930 bis 1934 die widerstandslose Selbsteingliederung des Deutschen Werkbundes in den Nationalsozialismus ermöglichte. Walter Riezler erscheint als einsamer Rufer in der Wüste, wenn er der Reaktion 1931 offen den Kampf ansagte - ein Verhalten, das in der Linie von 1919 steht, wo er den Werkbund als politische Organisation bezeichnet hatte, der ohne Politik eine Machtverlust erleiden würde:

"Es wäre ein schwerer Fehler, würde der Werkbund die Argumente der Reaktion gering schätzen oder aus taktischen Gründen zu ihnen schweigen und sich auf ein neutraleres Arbeitsgebiet zurückziehen. Er wird sich mit aller Entschiedenheit mit diesen Argumenten auseinandersetzten und den Mächten der Reaktion offenen Kampf ansagen müssen."39

Die Mitglieder des Deutschen Werkbundes konnten aber zu keiner dauerhaften gemeinsamen politischen Linie finden, sie waren in ihren Haltungen ebenso zerstritten und uneinig, wie die Gesellschaft der Weimarer Republik insgesamt. Die Erfolge der radikalen Moderne hatten sich nicht nur vor Angriffen von außen zu verteidigen, sondern auch vor Angriffen der eigenen Mitglieder - Paul Schulze-Naumburg, Paul Schmitthenner und Paul Bonatz oder die Handwerksgruppen im Werkbund sind hierfür Beispiele. Der Werkbund war mehr Forum und Repräsentant der geistig-kulturellen Strömungen der Zeit als eine eigenständige Organisation, mit klaren politischen Zielen und eigenem Profil.

Literatur

Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M. 1993. Campbell, Joan: Der Deutsche Werkbund: 1907-1934. Stuttgart 1981. Fischer, Wend (Hg.): Zwischen Kunst und Industrie, Der Deutsche Werkbund (Kat:). München 1975. Peukert, Detlev J.K.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne. Frankfurt a.M. 1987. Petzina D., Abelshauser W., Faust A.: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III, Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914-1945. München 1978. Die Zwanziger Jahre des Deutschen Werkbundes: Deutscher Werkbund, Werkbund Archiv (Hg.). Giessen 1982.

Fußnoten


  1. D. Petzina, W. Abelshauser, A. Faust: (1978). S.64. ↩︎

  2. Poelzig, Hans: Werkbundaufgaben, Vortrag auf der Jahrestagung Stuttgart, 1919, in: "DWB-Mitteilungen" 4/1919. Zit. nach: Fischer (Hg.) (1975), S.161. ↩︎

  3. ebd. ↩︎

  4. ebd. ↩︎

  5. ebd., S.162. ↩︎

  6. ebd. ↩︎

  7. ebd., S.166. ↩︎

  8. ebd., S.164. ↩︎

  9. ebd., S.166. ↩︎

  10. ebd. ↩︎

  11. ebd., S.164. ↩︎

  12. ebd. ↩︎

  13. Auszüge aus dem Bericht der "DWB-Mitteilungen" 4/1919 sind wiedergegeben in: Fischer (Hg.) (1975), S.168-171. ↩︎

  14. vgl. ebd., S.170: "Wie der eigene Fabrikbetrieb des Redners, so sind auch andere industrielle Unternehmungen aus der handwerklichen Produktion hervorgegangen… In solchen Betrieben der Kunstindustrie, die nichts anderes sind als eine Zusammenfassung vieler handwerklicher Kräfte…" ↩︎

  15. vgl. ebd., S.171. ↩︎

  16. Renner, Paul: Künstler und Gewerbe, "DWB-Mitteilungen" 10/1921. In: Fischer (Hg.). (1975). S.176. ↩︎

  17. ebd., S.174. ↩︎

  18. ebd., S.176. ↩︎

  19. ebd., S.174. ↩︎

  20. Heuss, Theodor: Stil und Gegenwart, in: "Die Form" 1/1922. In: Fischer (Hg.). (1975). S.186. ↩︎

  21. Adolf Behne: Kunst, Handwerk, Technik, in: Die neue Rundschau, 1922. S.1021-1037. S. Darstellung in: Knut Niederstadt: Mit der Zukunft im Bunde? Zur Geschichte des Deutschen Werkbundes 1907-1934, in: Deutscher Werkbund, Werkbund-Archiv (Hg.) (1982), S.7-55. ↩︎

  22. Campbell (1981), S.226. ↩︎

  23. Peter Behrens: Stil?, in: "Die Form" 1/1922. In: Fischer (Hg.) (1975). S.181-184. ↩︎

  24. ebd., S.227. ↩︎

  25. Schlemmer, Oskar: Briefe und Tagebücher. München 1958, S.132. Zit. nach: Campbell (1981), S.227. ↩︎

  26. Vgl. ebd., S.85. ↩︎

  27. Vgl. Campbell (1981), S.228/229. ↩︎

  28. Riezler, Walter: Die Form ohne Ornament, Vorwort zum Buch "Form ohne Ornament", Stuttgart 1924. In: Fischer (Hg.) (1975). S.193/194. ↩︎

  29. Vgl Campbell (1981), S.249. ↩︎

  30. Vgl. ebd. ↩︎

  31. Breuer, Marcel: metallmöbel, "Innenräume", Stuttgart, 1928. In: Fischer (Hg.) (1975). S.237. ↩︎

  32. ebd., S.236. ↩︎

  33. Schneck, Adolf G.: Über Typenmöbel, "Innenräume", Stuttgart 1928. In: Fischer (Hg.) (1975). S.230. ↩︎

  34. "Das Möbel, das nicht unbedingt gebraucht wird, ist ein Luxusgegenstand. Der Luxusgegenstand, der typisiert wird, heißt Kitsch." Schneck, Adolf G.: Über Typenmöbel, "Innenräume", Stuttgart 1928. In: Fischer (Hg.) (1975), ↩︎

  35. Gropius, Walter: Wo berühren sich die Schaffensgebiete des Technikers und des Künstlers?, in: "Die Form" 3/1926. In: Fischer (Hg.) (1975). S.211/212. (Hervorhebung S.G.) ↩︎

  36. Campbell (1981), S. 253. ↩︎

  37. ebd., S.255. ↩︎

  38. ebd., S.256. ↩︎

  39. Walter Riezler: Werkbundkrisis?, in »Die Form« 1/1931. In: Fischer (1975) S.283. ↩︎

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