Perfekte Musik vom Automaten?

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 Objektgeschichte

Die Anfänge von Grammophon und Schallplatte im Kontext der Musikkultur

Das Urteil war vernichtend. „Krächzmaschine“, befand Ernst Paul Rießner abfällig. Was war geschehen? Emile Berliner, Entwickler des Grammophons und der Schallplatte, arbeitete an der Vermarktung seines Apparates. Er suchte in Deutschland Firmen, die in der Lage waren, das Grammophon in Serie zu produzieren. Hierzu nutzte er 1898 seine familiären Beziehungen. Er wandte sich an die Leipziger Orpheus-Werke, die automatische Musikschränke herstellten.

Berliners Bruder Josef war Mitinhaber der Orpheus-Werke und dessen Schwager Ludwig Wild in leitender Position tätig. Mit ihrer Hilfe wurde ein Muster angefertigt, das aber nicht funktionierte und so kam es zum Treffen mit Rießner. Berliner traf den Direktor der Leipziger Polyphon-Werke im Hotel „Kaiserhof“ und bot ihm das Patent für das Grammophon zum Kauf an. Doch der im international ebenso florierenden wie angesehenen Geschäftsfeld der Musikwerke erfolgreiche Rießner wollte sich auf einen Apparat mit derart schlechten Klangeigenschaften nicht einlassen.[1] Berliner gründete Anfang Dezember deselben Jahres die Deutsche Grammophon Gesellschaft, die die Polyphon 1917 aufkaufte.

Mit seiner Zurückhaltung war Rießner nicht allein. Weder stellte die technische Reproduktion von Schall mittels eines Tonträgers vor 1900 eine Alltagshandlung der Menschen dar, noch bildete die Schallplatte eine strukturelle Komponente der Musikindustrie. Eher konservativ eingestellte Zeitgenossen hielten es daher auch für denkbar, dass dem Grammophon – wie auch seinem Pendant, dem Phonographen von Thomas Alvar Edison – keinerlei Breitenwirkung beschieden sein würde.

Doch wie wir heute wissen, kam es anders. Und Emile Berliners Konzept, auf vorbespielte Tonträger sowie auf einen technisch simplen Apparat ohne Aufnahmemöglichkeit zu setzen, erwies sich als äußerst hellsichtig. Edisons Walzen-Phonograph hatte anfangs zwar den besseren Klang und man konnte eigene „Recorde“ mit ihm anfertigen. Jedoch ließen sich Walzen nur in einem sehr aufwändigen Prozess in begrenzter Stückzahl vervielfältigen.

Als „New Economy“ der Jahrhundertwende boomte die sich neu formierende Phonoindustrie international. In Deutschland stieg sie innerhalb nur eines Jahrzehnts zum Weltmarktführer und Exportweltmeister noch vor den USA auf. Erste Anzeichen einer Marktsättigung in den 1910er-Jahren bis vor dem Ersten Weltkrieg ließen den Horizont des Wachstums aufscheinen. Aus Firmenzusammenschlüssen gingen transnationale Konzerne hervor, die als „Global Player“ agierten. Diese erste Phase der Phonoindustrie ist als Teil des Globalisierungsschubes der Kaiserzeit zu verorten, eines umfassenden Umbruchs, gleichwohl befördert von den modernen Kommunikationsmitteln Telegraph und Telefon sowie den Verkehrsmitteln Eisenbahn und Schiff. Der internationale Handel mit Schallplatten erweiterte weltweit das Angebot konsumierbarer Musiken und beförderte den kulturellen Austausch.

In geografischer Hinsicht bildete sich in Deutschland vor allem Berlin als Zentrum der Phonoindustrie heraus, gefolgt von Leipzig, Dresden und Süddeutschland. Die Bedingungen in Berlin waren mehr als günstig. Die Luisenstadt, das heutige Kreuzberg, bot eine dichte Infrastruktur mit Gewerbetreibenden unterschiedlichster Art. Im „Exportviertel“ rund um die Ritterstraße konzentrierten sich international agierende Unternehmen. Ferner nahm Berlin eine führende Rolle innerhalb der Musikkultur ein. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war hier der Hauptsitz der Klavierindustrie. Ziehharmonikas und Orchestrions wurden in Berlin hergestellt und die Phonoindustrie konnte versierte und billige Arbeiter rekrutieren. Schallplattenaufnahmen von internationalen Bühnengrößen liessen sich „vor Ort“ anfertigen. Die Deutsche Grammophon nahm beispielsweise den Tenor Enrico Caruso bei einem seiner Gastaufenthalte in Berlin auf. Nicht zuletzt stellte Berlin mit seinen vier Millionen Einwohnern einen idealen Test- und Absatzmarkt für die Produkte der Phonobranche. Für Leipzig als Standort sprachen vor allem die Tradition und hohe Bedeutung der Produktion von Musikinstrumenten und Musikautomaten. Leipzig hatte sich als Zentrum für die Herstellung selbst spielender Musikinstrumenten weltweit einen Namen gemacht.[2] Den Kontakt mit den Orpheus- oder den Polyphon-Werken aufzunehmen, wie Emile Berliner es tat, erscheint vor diesem Hintergrund als folgerichtig. Berliner zielte mit seinem Gebrauchskonzept der vorbespielten Tonträger auf die Musikkultur und das Unterhaltungsbedürfnis der Konsumenten – im Unterschied zu Edison, der die produktive Seite der Apparate im Blick hatte und darauf setzte, mit Hilfe der Selbstaufnahme die Büroarbeit rationalisieren zu können. Hier in Leipzig verband sich für Berliner beides: die Musikkultur und die Technik in Form der Automatisierung der Musikinstrumente. War das Grammophon strukturell nicht dasselbe wie die Musikautomaten? Musikkultur als Gehalt der Schallplatte, komfortabel reproduziert von einer technischen Apparatur?

Das Lyrophon-Automobil der Lyrophon-Werke aus Berlin auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1906. Die beiden Symbole des Fortschritts Phonoobjekt und Automobil erregten die Aufmerksamkeit der Passanten.

Leipzig erwies sich aber auch aus anderen Gründen als prädestiniert für die Phonobranche. Als Knotenpunkt des Eisenbahnverkehrs bot es für den Warentransport ideale Bedingungen und als Messestandort beheimatete Leipzig zweimal im Jahr die Leistungsschau der Phonoindustrie. Bis gegen Ende der 1920er Jahre stellte die Phonoindustrie in der Petersstraße auf der Frühjahrs- und der Herbstmesse ihre Neuheiten aus. Ein Augenzeuge berichtete 1910: „In der Petersstrasse wimmelt es von Menschen, die schmale Strasse ist bei dem herrlichen Frühlingswetter so belebt wie nur jemals, und man hört viel fremde Sprachen; englisch, französisch, polnisch, russisch.“[3] Mit der Verbreitung des Rundfunks verlor die Leipziger Messe für die Phonoindustrie an Attraktivität. Die Teilnahme an der Funkausstellung in Berlin erschien den Branchenteilnehmern angemessener. Die „Große Deutsche Funkausstellung“ von 1930 schließlich markierte den Wendepunkt in diesem Trend, die Leipziger Messe war passé.[4] Der Erfolg der Schallplatte hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die unterschiedlichsten Lebensbereiche der Menschen. Zuvorderst sind die strukturellen Auswirkungen auf die Musikkultur zu nennen, das heißt auf die neuen Formen der Produktion, der Verbreitung und Aneignung von Musiken sowie deren Konsum. Viele Künstler ließen sich hierauf ein. Gewohnt, ihre flüchtige Kunst vor einem anwesenden Publikum darzubringen, sahen sie sich nun mit den Bedingungen des Aufnahmestudios konfrontiert.

Als die Sängerin Frieda Hempel 1907 für die Odeon Aufnahmen einspielte, erfuhr sie am eigenen Leib, was es heißt, vor dem Aufnahmetrichter bestehen zu müssen. Musiker, Sängerin und Techniker gruppierten sich aus akustischen Gründen zusammengepfercht in einem engen Raum um den Apparat. Hempel wurde in den Rücken „geknufft“ als Zeichen, loszusingen. Die auditive Dynamik der Aufnahme musste durch den Abstand der Schallquelle zum Aufnahmetrichter bestimmt werden. So zog ein Techniker Hempel am Rock, damit sie bei lautem Gesang vom Aufnahmetrichter zurücktrat. Bei leiseren Tönen schob man sie wieder an den Trichter heran. Da es keine Möglichkeiten des Tonschnitts gab, mussten die Aufnahmen so lange wiederholt werden, bis die Stimme gleichmäßig aufgenommen war: „Und wenn eine Aufnahme wirklich glückte, dann zerbrach womöglich die Platte."[5] Ein mühsamer Prozess.

Den hohen Grad an Disziplinierung, der von den Künstlern abverlangt wurde, bekam auch der Schauspieler Kainz zu spüren. Seine Darbietungsform verband sich mit einem ausladenden Spiel an Gebärden und Gesten. Mit seinen rudernden Händen traf er den Aufnahmetrichter und entschuldigte sich daraufhin mit einem lauten „Pardon“, das die Aufnahme unbrauchbar machte. Kainz erkannte das Problem und schlug vor, man möge ihm die Hände festhalten, da er sich das „Herumarbeiten“ mit ihnen ja doch nicht abgewöhnen könne. Derart fixiert geriet der Schauspieler während seines Vortrages immer mehr „ins Feuer“, bis er schließlich in höchster Erregung gegen die Fixierung protestierte und krampfhaft an den Händen zog. Auf der Bühne stürzte er für gewöhnlich an dieser Stelle auf die Knie und breitete die Arme aus. Jetzt jedoch wurde er festgehalten. Kainz schrie unvermittelt „Auslassen, – verfluchte Bande“ und kippte damit die Aufnahme.[6]

Neben körperlicher Disziplin zwang die Tonaufzeichnung die Künstler zur Perfektion. Eindrucksvoll schilderte der Pianist Artur Schnabel diesen Zwang in einem Brief an seine Frau. Schnabel spielte das erste Mal Aufnahmen für einen Tonträger ein, 1932 in London, Sonaten von Beethoven. Schnabel erkannte im „Verplattungsvorgang“, wie er die Aufnahmeprozedur nannte, eine „Zerstörung durch Erhaltung“, denn was nicht sterben könne – die „ewige“ Aufnahme – habe nie gelebt. Die Maschine tue dem Menschen Gewalt an, in dem die „armselige Technik“ ihn zwinge, fehlerfrei zu sein, was aber nicht gelänge.[7] Scham überkam Schnabel angesichts des Zwangs der Maschine zur unbedingten Perfektion. Auf der Bühne und vor Publikum spielend erschienen die Fehler des Künstlers nicht als solche, sondern waren als natürlicher Bestandteil in die musikalische Praxis integriert.

Seit den ersten funktionstüchtigen Prototypen des Phonographen und des Grammophons ist die Fähigkeit, Schall aufzeichnen und wiedergeben zu können, auf immer neue Objektgenerationen übergegangen, zuletzt auf die digitalen Apparate. Die Geschichte dieser Objekte[8] verdeutlicht, wie sich an ihnen Prozesse der Produktion, der Nutzung und der Sinngebung festmachen, die in neue Lebensweisen und Lebenswelten münden.


  1. Vgl. Carl Below: Ein Rückblick. 25 Jahre und noch länger „Grammophon“, in: Phonographische Zeitschrift, 25.1924, Nr. 11, S. 530/532.  ↩

  2. Birgit Heise: Die Hersteller selbst spielender Musikinstrumente aus Leipzig mit ihren Produkten und Patenten aus der Zeit von 1876 bis 1930, http://mfm.uni-leipzig.de/hsm/content.php (30.11.2014).  ↩

  3. N.N.: Der Montag der Messe, in: Phonographische Zeitschrift, 11.1910, Nr. 10, S. 267/268, Zit. S. 267.  ↩

  4. Max Eisler: Gedanken über die Phonoschau, in: Phonographische Zeitschrift, 31.1930, Nr. 18, S. 1316.  ↩

  5. Frieda Hempel: Mein Leben dem Gesang. Erinnerungen, Berlin 1955. Zit. nach: Dieter Glatzer u. Ruth Glatzer: Berliner Leben 1900–1914. Eine historische Reportage aus Erinnerungen und Berichten, Bd. 1, Berlin 1986, Zit. S. 592.  ↩

  6. N.N.: Vor dem Aufnahme-Trichter. Erinnerungen eines alten Phonotechnikers, in: Phonographische Zeitschrift 11.1910, Nr. 46, S. 1024–1027, Zit. S. 1026.  ↩

  7. Artur Schnabel: Musiker, Musician,1882–1951, hrsg. von Werner Grünzweig (Ausst.-Kat.), Hofheim 2001, Zit. S. 124/125.  ↩

  8. Siehe hierzu ausführlich: Stefan Gauß: Nadel, Rille, Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons in Deutschland (1900–1940), Köln, Weimar, Berlin 2009.  ↩

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